Kraft durch Atmen

18.03.2019

 

"Damit wir im Ganzen wieder zur Ruhe kommen, um nachher wieder neu beginnen zu können!" (Ruth Veselko, Erfahrungen und Methoden des Embodiment, S.53)

 

 

Seit einigen Monaten beschäftigen mich Texte der frühen Somatics (Körpertherapeuten). Das waren Leute, die teilweise gar keine psychologische oder medizinische Ausbildung hatten. Manche von ihnen waren Gymnastiklehrerinnen (wie Elsa Grindler, Ilse Middendorf oder Charlotte Selver), andere wurden durch Musikpädagogik bekannt (wie Heinrich Jacoby). Wieder andere kamen aus der Physiotherapie (Marion Rosen), aber auch viele aus der Artistik, dem Tanz und der Schauspielkunst (Bonnie Bainbridge Cohen, Gerda Alexander, Judith Aston). Nur wenige der frühen Körpertherapeuten haben Schulen gegründet und so ihren Namen mit einer Therapiemethode verbunden hinterlassen (wie die Biochemikerin Ida Rolf oder der Physiker Mosché Feldenkreis). Etliche waren jüdischer Herkunft und flohen vor den Nationalsozialisten in die Schweiz, nach Schweden oder in die USA. Sie alle haben sich über Jahrzehnte dem lebendigen Studium des menschlichen Körpers gewidmet, sie haben präzise das Zusammenspiel der Bewegung im Kontext mit der geistigen und psychischen Welt des Menschen studiert, und sie erforschten intensiv die Komplexität unserer Atemtätigkeit. Ihre Texte, ihr einfaches und doch so fundiertes Wissen über Embodiment (d.h. Verkörperung) und die Kunst des Atmens beeindrucken mich zutiefst, wie es keine Studie oder wissenschaftliche Literatur vermag. Sie waren ganzheitliche Heiler, doch die Wissenschaft begegnet ihrem Lebenswerk bis heute leider nur mit einer ausgesprochen bornierten Haltung!

 

 

Während meiner Studien dieser großartigen Körpertherapeuten spürte ich noch die Beeinträchtigung meiner eigenen Atmung nach einem heftigen Virusinfekt. Die Zeit meines Krankenstandes nutzte ich sozusagen, um mich noch eingehender mit der Atem- und Körperwahrnehmung zu beschäftigen. Doch nicht erst jetzt wurde mir bewusst: Sie sind so wertvoll und weiterführend für meine ganzheitliche Arbeit! Denn vieles von dem, was ich von ihnen lerne, kann ich so gut verbinden, sowohl mit den Erfahrungen meiner Psychotherapie-Arbeit in eigener Praxis, als auch mit den regelmäßigen Lockerungs- und Gymnastikübungen in der Psychosomatischen Klinik, und dort in meiner Funktion als Krankenschwester.

 

 

So lernte ich, was schon mit Hypnose und NLP im Fokus steht: nämlich dass der Atemrhythmus aus weit mehr als nur dem Ein- und Ausatmen besteht. Vor allem die Atempausen sind von besonderem Wert: "Wenn man die Atmung zur Vollkommenheit führen will, muss man die vier Phasen der Atmung gut durchführen können. Einatmung, Ruhe, Ausatmung, Ruhelage." (Elsa Grindler, Klassiker der Körperwahrnehmung, Hg. Don H. Johnson, S.38). Vollkommen präzise beschreibt sie dann die vielfältigen Störungen des Luftflusses und deren physiologische Auswirkung auf den Gasaustausch im Körper. Aber auch die Befreiung des stockenden Atems im Sitzen, beim Stehen, Zusammenhänge beim Dehnen, Gähnen und schließlich das permanente Zusammenwirken der Atemtätigkeit mit der Schwerkraft der Erde. Durch die Schwerkraft und die Flüssigkeiten im Körper können wir das Innere, als auch unsere Position im Raum propriozeptiv erspüren. Alle Somatics unterstützten ihre Klienten in der Selbst- und Körperwahrnehmung und leiteten sie an, auch die geistige Ebene, den Bedeutungsbezug zu ergründen. Mit Hilfe des Atems regten sie dazu an, den Weg von der Oberfläche in die Tiefe zu finden (wie beim ganzheitlichen Fokussieren). Sie orteten das Unbewusste im ganzen peripheren Körper und nicht im Kopf, dem "verwaltenden" Zentrum unseres Nervensystems.

 

 

So schreibt Carola Speads in Klassiker der Körperwahrnehmung: "Es war Elsa Grindler, die das Niveau der Atemlehre anhob. [...] Anstelle der mechanistischen Herangehensweise, die für die Atemarbeit damals so charakteristisch war und auch heute noch sehr verbreitet ist, nutzte sie Körperwahrnehmung als Grundlage und Ausprobieren als Arbeitsweise." (S.80) Atemarbeit geht vom menschlichen Wesen als einer individuellen und komplexen Ganzheit aus, im Beziehungsfeld zwischen Innen und Außen. Und die frühen Somatics setzten dieselbe prozesshafte Einstellung in der Therapie um wie ich. In diesem Sinne gab es bei ihnen keine >richtige< oder >falsche< Atmung mit kontrolliertem Umlernen im Hinblick darauf. "In Bezug auf das Atmen ist eine derart mechanistische Vorgehensweise zum Scheitern verurteilt [...]. Atmen bleibt eine unwillkürliche, selbstregulierte Funktion. [...] Der Atem kann nur stimuliert und gelockt werden, er kann durch bestimmte Reize zu einer Veränderung angeregt werden. [...] Je geübter Sie darin sind, Ihren Atem zu spüren und Veränderungen Raum zu geben, desto rascher und tief greifender werden sich die Atemversuche auswirken. So können Sie sich im Alltag schneller von einer Phase ungünstiger Atmung erholen. Die Hektik des Alltags wird weniger anstrengend und angenehme Momente können vollständig ausgekostet werden." (Carola Speads, Klassiker der Körperwahrnehmung, S.84-86, Hg. Don Hanlon Johnson und Thea Rytz). Es geht also um den Prozess einer achtsamen Erweiterung der Selbstwahrnehmung mit Hilfe des Atems. In der Psychotherapie ist die Einbeziehung des Körpers so wichtig und das Potential, das im Atem steckt!