Landkarten und Wirklichkeit

01.02.2019
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Das menschliche Wesen ist ein Wunderwerk der Wahrnehmung! Wir sind fähig, in Sekunden abertausend Sinneseindrücke nicht nur zu filtern, sondern auch innerlich zu systematisieren. Dazu verfügt jedes Individuum über seine eigenen inneren Landkarten, d.h. seine systematischen Filter bestehend aus Sprache, Erfahrungen, kulturellem Bewusstsein, übernommenen Vorurteilen, erworbenem Wissen u.v.m. Die meisten dieser Kognitionen vollziehen sich unbewusst. Der Sprachwissenschaftler und Kulturanthropologe Whorf sagte dazu: "Insofern ist das Denken eine höchst rätselhafte Sache, über die wir durch nichts so viel erfahren wie durch das vergleichende Sprachstudium. Dieses Studium zeigt, dass die Formen des persönlichen Denkens durch unerbittliche Strukturgesetze beherrscht werden, die dem Denkenden nicht bewusst sind. [...] Das Denken selbst geschieht in Sprache. [...] Und jede Sprache ist ein eigenes riesiges Struktursystem, in dem die Formen und Kategorien kulturell vorbestimmt sind, aufgrund deren der einzelne sich nicht nur mitteilt, sondern auch die Natur aufgliedert, Phänomene und Zusammenhänge bemerkt oder übersieht, sein Nachdenken kanalisiert und das Gebäude seines Bewusstseins baut." In seinem interessanten Büchlein (Benjamin Lee Whorf, Sprache - Denken - Wirklichkeit, S. 52,53) machte er bereits 1956 darauf aufmerksam, wie verheerend es ist, wissenschaftliches Forschen auf eine einzige Denkart, nämlich die Wissenschaftssprache Englisch zu reduzieren. Dadurch gehen Möglichkeit alternativer Perspektiven verloren. Er führte das Beispiel eines Mathematikers indigener Abstammung an, der seinerzeit ein lange ungelöst gebliebenes mathematisches Problem aufgrund der besonderen Sicht- und Denkweise durch seine Muttersprache Hopi lösen konnte. Diesen Aspekt möchte ich nun vereinfacht folgendermaßen ausdrücken: Sprache ist eine innere Landkarte, ein wertvoller innerer Kompass. Und wir brauchen innere Landkarten, um die Wirklichkeit für uns sinnvoll zu strukturieren und zu systematisieren.

 

 

Doch nicht nur Sprache systematisiert unser Denken und unsere Wahrnehmung. Menschen orientieren sich in der Welt mit Hilfe vielfältiger Landkarten (Fachgebiete, Philosophien, Religionen, Mythologien, u.v.m.). Ohne unsere Landkarten könnten wir uns gar nicht zurechtfinden in der Wirklichkeit. Doch wie wirklich ist die Wirklichkeit? Dispute darüber, welche Landkarten die richtigen und wahren sind, halten seit Jahrhunderten an! Damit beschäftigen sich heute nicht nur Kognitionswissenschaftler und Philosophen - diese Frage hat auch Relevanz für die moderne Psychiatrie und Psychotherapie, ja für das gesamte Heilwesen! Längst musste sich die Wissenschaft vom Postulat der Objektivität ihrer Wirklichkeitsnachweise verabschieden, doch nicht in allen Wissenschaftszweigen gelingt dieser Abschied, besonders in Medizin und Psychologie wird hartnäckig daran festgehalten. Doch will ich an dieser Stelle keine Lanze brechen für die Erörterung darüber, wer nach welchen Bewertungskriterien die Konventionen für Regeln anerkennungswürdiger Landkarten festlegt. Das Thema der Bewertungskriterien (und hier sollte die Betonung auf Werte liegen!) für einen Umgang mit Schulen-Pluralismus im Heilwesen ist sicher eine eigene Betrachtung wert, denn natürlich können nicht alle Landkarten gleichwertig sein.

 

 

Zweifelsohne haben wir mit den modernen Wissenschaften heute äußerst wertvolle Landkarten, die sich der Wirklichkeit auch differenziert und oft detailgetreu annähern. Dennoch gilt zu beachten und ist mir wichtig an dieser Stelle zu betonen: Landkarten und Wirklichkeit sind nicht dasselbe. Die Landkarte ist ja auch nicht die Landschaft, und die Speisekarte nicht das Gericht. Naturwissenschaften wie Physik und Mathematik sind ebenso hochdifferenzierte Landkarten, Hilfsmittel zur Errechnung der eigentlichen Wirklichkeit, die zweifelsohne das Universum selbst bleibt. Und da Landkarten nie alles aufzeigen können, so ist auch mit der höchsten Mathematik nicht mehr alles berechenbar, was die Geheimnisse der schwarze Löcher im All betrifft. Auch Psychologie und psychotherapeutische Theorien sind Landkarten, während das Individuum selbst die Wirklichkeit Mensch ist, eine Körper-Seele-Geist-Einheit. Mit unterschiedlichen (Psycho-) Landkarten kann ich Störungsvarianten unterschiedlich betrachten, wie schön, wenn schulenübergreifend gearbeitet werden kann und gleich mehrere zur Hand sind. So zeigen manche Landkarten Dinge auf, die andere Landkarten möglicherweise nicht erkennen lassen! Ist es nicht vergleichbar mit der Frage nach der Perspektive: Wo stell ich mich hin, um den besten und für mich nützlichsten Blickwinkel auf etwas zu gewinnen? Und jede Perspektive weist ihren blinden Fleck auf, so wie auch unser physisches Auge seinen Blindfleck hat. Keine Landkarte, so exakt und differenziert sie auch erstellt sein mag, ist die Wirklichkeit selbst, sondern sie bleiben Abbilder, bloße Theoriengebäude, Erklärungen, mit deren Hilfe wir uns der Wirklichkeit Mensch, Natur, Kosmos annähern.

 

 

Ganzheitlich spirituelle Landkarten zielen in der Psychotherapie auf Veränderung durch Transzendenz und Überwindung hin, während wissenschaftliche Landkarten in der Psychotherapie auf Differenzierung und Integration hinarbeiten. Wenn wir die vorgefundene Wirklichkeit nicht analytisch zerpflücken, sondern uns ihr ganzheitlich annähern wollen, was bedeutet das? Wir können uns in sie als Ganzes hineinfühlen, ohne in ein magisches oder mythisches Bewusstsein zu regredieren (wie es in esoterischen Systemen oder der New Age Bewegung manchmal üblich ist). Die ganzheitliche Sichtweise, die ich meine, ist in der Psychotherapie und auch sonst im Leben darum bemüht, eine respektvolle Verbindung aufzunehmen, vorurteilsfrei in Beziehung zu treten, bewertungsfrei anzunehmen. Wir bauen dann eine Beziehung dazu auf, wir partizipieren daran, anstatt es wissenschaftlich (und mit der Illusion einer objektiven Betrachtung) von außen zu untersuchen. Einen solchen Prozess beschreibt gewahrsam Sein und Achtsamkeit. Der Personenzentrierte Ansatz von Carl Rogers, das Satirmodell oder auch die Selbstaktualisierungstendenz der Gestalttherapie beschreiben eine solche Art psychotherapeutischer Annäherung, die Raum lässt für das Wirkliche.

 

 

Landkarten an sich sind alle reduktionistisch! Ganz gleich welche Landkarten der Psychologie und Psychotherapie auch zum Einsatz kommen - ob wissenschaftlich fundiert (z.B. verhaltenstherapeutisch) oder alternativ (z.B. homöopathisch) - sie alle sind nur Hilfsmittel zur Wiedererlangung einer Balance im wirklichen Leben! Die Haltung einer ganzheitlich beseelten Psychotherapie schließt jedoch den Respekt eines großen Ganzen hinter all unseren Landkarten immer mit ein. Wissenschaftsdogmatismus dagegen verleitet zur überheblichen Annahme, evaluierte (d.h. wissenschaftlich nachgewiesene) Denkansätze seien die einzig wahren, und so wird unsere Wirklichkeit mit Landkarten verwechselt! Dabei ist die Wirklichkeit immer mehr als unsere Landkarten aufzeigen können! Und schließlich wird inzwischen nicht nur im NLP (systemtheoretisch, bzw. konstruktivistisch) abgeleitet, dass Wirklichkeit sich auch über die Projektion unseres eigenen Geistes entfaltet, also unser Bewusstsein und die inneren Landkarten das Leben mitgestalten! Darüber lohnt es sich weiter nachzudenken! Und obwohl dies einer empirisch wissenschaftlichen Erkenntnis entspricht, so werden letztendlich auch mystisch spirituelle Betrachtungen der Welt damit bestätigt. Demnach sind wir Menschen für die Wirklichkeit und Weiterentwicklung unserer gemeinsamen Welt mitverantwortlich! Durch uns (unsere destruktiven Konstruktionen, Abschottungen und Entwertungen anderer Lebenssysteme) fällt die Welt auseinander - aber durch uns können Körper, Seele und Geist auch wieder heil (ganz) werden! Die ganzheitliche Psychotherapie kann zur Weiterentwicklung beitragen, durch Differenzierung, Integration und Transzendenz.

 

 

 

 

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