Unterdrückte Lebenskraft

21.01.2019

 

Der Homöopathie liegt ein Lebensenergie-Konzept zugrunde. Demgemäß unterscheidet sich der lebendige Organismus von einem toten durch die sogenannte geistartige Lebenskraft, Dynamis genannt. Samuel Hahnemann (Gründer der Homöopathie) teilte mit dieser Vorstellung das Menschenbild des Vitalismus, einer Gegenbewegung zum Mechanizismus der Aufklärungs-Ära und ihrem mechanistischen Bild des Menschen nach Descartes. Mit Descartes rein naturwissenschaftlicher Auffassung geht für viele bis heute die Ansicht einher, "[...] mit der Entdeckung der Erbinformation im Zellkern und mit der weitgehend vollständigen Beschreibung biochemischer Vorgänge sei das Leben umfassend erklärt." (Geißler, Quak, Leitfaden Homöopathie, S.18) Bei Hahnemann dagegen heißt es im Ursprungstext: "Im gesunden Zustand des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper (Organism) belebende Lebenskraft (Autocratie) unumschränkt und hält alle seine Theile in bewunderswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten [...]." (Hahnemann, Organon, §9)

 

 

Energievorstellungen in anderen Heilsystemen

 

Die homöopathische Vorstellung widerspricht damit den Naturwissenschaften, hat aber eine lange Tradition, im Abendland verweist sie auf jenen Entelechie-Begriff von Aristoteles. Lebenskraft, von Hahnemann als Dynamis bezeichnet, heißt in der Chinesischen Medizin Chi, und im Ayurveda wird sie Prana genannt. Die Techniken der östlichen Kampfkunst, Aikido, Tai-Chi oder Chi Gong beziehen sich direkt auf diese Energie. Während der abendländischen Aufklärung (1650 bis 1800) wurde die Vernunft über alles gestellt, was in vielen Bereichen der westlichen Kultur zweifelsohne zu großen Errungenschaften geführt hat. Aber das Körperliche, das Gefühlvolle und auch das Sexuelle wurden der Vernunft unterstellt und damit tabuisierend auch unterdrückt. Insofern war es Anfang des 20.Jhd. geradezu revolutionär, als Sigmund Freud mit der Psychoanalyse ein - zumindest teilweises - Energie-Konzept einführte und diese Energie Libido nannte. Darunter verstand Freud psychische Energie, die er in seiner Triebtheorie mit sexuellen Begierden verbunden sah. Freud hielt sein teilweises Energie-Konzept jedoch noch kompatibel mit den Naturwissenschaften. Wilhelm Reich (ein von Freud ausgeschlossener Psychoanalytiker) inspirierte Körpertherapien der 1930iger Jahre mit seiner Vorstellung einer Orgon Energie. Psychosomatische Konzepte beziehen heute den Körper wieder unmittelbar mit ein (Embodiment genannt). Nicht nur bei der Behandlung einer Konversionsstörung (psychogene Lähmung) z.B. bekommt der Bedeutungsbezug der Psychosomatischen Medizin durchaus eine vergleichbare Konnotation mit Hahnemanns Energie-Konzept. Um zu heilen muss hier der Bedeutungsbezug (bei Hahnemann die gestörte Lebenskraft) psychotherapeutisch erschlossen und bearbeitet werden. Zur weiteren Betrachtung dessen gehe ich jedoch noch einmal kurz zurück zu Sigmund Freud.

 

 

Psychische Energie bei Sigmund Freud

 

Freuds Libido-Konzept stellte für die Medizin und Geisteswissenschaften um die Jahrhundertwende einen bedeutenden Paradigmen-Wechsel dar. "Während das Bild des Menschen noch in solchen statischen Eigenschaften gesucht wurde, hatte das Weltbild der Wissenschaft in anderen Sparten diesen materiebezogenen Gesichtspunkt längst hinter sich gelassen. Mit Freud [...] tritt der Begriff der Energie auch in die Psychiatrie ein. Seelische Gegebenheiten werden nun als dynamische Abläufe gesehen. Wie der Physiker beginnt nun auch der Seelenarzt in Begriffen einer [...] Energie, der Libido zu denken", heißt es beim Psychoanalytiker Paul Watzlawik (in Münchhausens Zopf, S.46). Und während im Geist der Aufklärung die menschliche Vernunft noch über alles gestellt wurde, kam Sigmund Freud um die Jahrhundertwende mit einer Theorie unterdrückter Liebeslust daher (Veröffentlichung von "Zur Psychopathologie des Alltagslebens" 1904). Demnach soll sie, die unterdrückte Libido im Unbewussten ihr Unwesen treiben und dem eigentlich doch so vernunftbegabten Menschen seine Ratio untergraben. Das war für die damaligen Biedermeier nicht nur in Wien äußerst schrill. Fortschreitendes Wissen in Physik und Technik haben mit der Wärmelehre zu einer solchen Wendung des Menschenbildes führen können, wobei sich die moderne Vorstellung Freuds damals noch immer stark am Mechanistischen (nämlich der Hydraulik) anlehnte. Dieses Bild vom menschlichen Organismus konnte sich erst viel später mit Integration der Systemtheorien komplexer weiterentwickeln.

 

 

Lebensenergie bei Hahnemann

 

Auch Hahnemann stellte sich mit der ersten Veröffentlichung seiner Erkenntnisse 1796 (ca. 100 Jahre vor Freud) gegen die Konventionen. Doch hatte er von Beginn an ein vollkommen ganzheitliches Bild der Natur: "Das Leiden der krankhaft verstimmten, geistartigen, unseren Körper belebenden Dynamis (Lebenskraft) im unsichtbaren Inneren und der Inbegriff der von ihr im Organism [...] darstellenden Symptome, bilden nämlich ein Ganzes, sind Eins und Dasselbe. Wohl ist der Organism materielles Werkzeug zum Leben, aber ohne Belebung von der instinktartig fühlenden und ordnenden Dynamis so wenig denkbar, als Lebenskraft ohne Organism; folglich machen beide eine Einheit aus, obgleich wir in Gedanken diese Einheit, der leichteren Begreiflichkeit wegen in zwei Begriffe spalten." (Organon, §15) Damit berührt er das sogenannte Leib-Seele-Problem, das sich durch unsere ganze Philosophie-Geschichte zieht.

 

Zusammengefasst ist die Lebenskraft nach Hahnemann unsichtbar, geistartig, im Organismus überall anwesend (Organon, §9, 11, 14, 17, 148); belebend, d.h. sie verleiht dem Organismus alle Empfindungen, Tätigkeiten und bewirkt seine Lebensverrichtungen, also Antrieb, ohne sie wäre er tot (§10, 1); ordnend, d.h. sie hält alle Teile in Gefühlen und Tätigkeiten in einem harmonischen Lebensgang (§9, 15, 148); fühlend, denn sie perzipiert durch den Fühlsinn der Nerven den Einfluss von krankmachenden Agens (§15, 16); verstimmbar, denn sie kann als geistartige Dynamis nur auf geistartig dynamische Weise ergriffen und affiziert werden (§11, 15-17); Krankheit äußernd, indem sie sich in Gefühlen und Tätigkeiten, d.h. in Form von Befindlichkeitsstörungen oder Krankheitssymptomen den Sinnen offenbart (§11,12); überfordert bei Erkrankung, d.h. die instinktlose Lebenskraft ist keiner Überlegung und Erinnerung fähig (§22, 34), sie setzt den chronischen Miasmen (Ansteckungen) nur unvollkommen, unzweckmäßigen Widerstand entgegen (§72), und das bedeutet auch, dass die verstimmte Lebenskraft sich nicht von selbst heilen kann. Eine gestörte Lebenskraft kann nach Hahnemann Symptome auf allen Ebenen hervorbringen: der körperlichen, der funktionellen und der psychischen Ebene. Damit ist sein Konzept gut vergleichbar mit dem der modernen psychosomatischen Medizin.

 

 

Befreiung von unterdrückter Lebenskraft

 

Mit der Homöopathie haben wir ein Heilsystem, das Körper und Psyche nicht getrennt voneinander sieht und behandelt. Sowohl die homöopathische, als auch die psychotherapeutische Behandlung zielen heute daraufhin ab, Lebenskraft wieder freizusetzen. Es geht dabei um Befreiung von blockierter oder auch Umstimmung psychischer Energie im Bedeutungsbezug, was auch immer körperlich erfahrbar wird. In der Psychotherapie verfolgen wir das Ziel, unterdrückte Gefühle wieder spüren zu können, wir zielen auf Stabilität durch Reflektion eines Gesamtkontextes, Differenzierung und Neuverarbeitung. Dabei kann der ganze Organismus komplementär mit einer homöopathischen Medikation aufgefordert werden, innerlich auf einen künstlichen (durch die Medikation erzeugten) Reiz zu antworten. Die Wirkung eines Reizes durch homöopathische Arznei ist nämlich auch eine energetische und keineswegs chemisch-stoffliche Reaktion des Körpers (ab einer Potenz größer als D15 finden sich in der homöopathischen Arznei sowieso keine stofflichen Rückstände mehr!).

 

Die Klassische Homöopathie wird aufgrund ihres Energie-Konzepts von der Wissenschaft abgelehnt! Dennoch liegt diesem Heilsystem mehr als 200 Jahre Erfahrung zugrunde, von Hahnemann seinerzeit schon hochdifferenziert ausgearbeitet, wurde es von namhaften homöopathischen Medizinern nach ihm (Kent, Boenninghausen, Allen, Boerike, Vithoulkas, Burnett, Mezger, Sanskaran, Laborde, u.v.m.) weiterentwickelt - so wie sich auch Freuds Psychoanalyse und andere Psychotherapiemodelle weiterentwickelt haben. Wenn eine homöopathische Arznei mit Sachverstand richtig ausgewählt wird, dann sollte sie die Psychotherapie mit einer positiven Wirkung auf gestörte und unterdrückte Lebenskraft komplementär unterstützen können. Durch den homöopathischen (energetischen) Arzneireiz möchten wir die körpereigenen Heilkräfte mobilisieren, ins natürliche Gleichgewicht zurückfinden zu können. Das widerspricht der wissenschaftlichen Empirie - darauf mache ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich aufmerksam - aber es entspricht dem Jahrhunderte alten, allgemeinen Grundsatz der Naturheilsysteme. Insofern könnten heute Psychotherapie und Homöopathie (gut ausgebildet) hervorragend Hand in Hand miteinander arbeiten, um unterdrückte Lebenskraft freizusetzen