Sinnfragen

26.12.2018

 

... richten sich häufig direkt oder indirekt an die Psychotherapie. Fragen nach Hoffnung, Liebe und innerem Frieden sind manchmal initiative Motivatoren zu einer Psychotherapie hin. Ebenso zentral ist die Frage nach dem eigenen Platz im Leben, die immer mehr Menschen zu bewegen scheint. Regt sich mit Sinnfragen möglicherweise auch die Sehnsucht des Menschen nach mehr Eingebundensein in der Gemeinschaft und in etwas noch Größerem? Durchaus nachvollziehbar bei den derzeitigen gesellschaftlichen und globalen Entwicklungen - in denen wir erleben, dass der Mensch mehr und mehr seine Grenzen massiv überschreitet und in vielen existentiellen Bereichen des alltäglichen Lebens sein Maß sowie sein rechtes Gespür dafür zu verlieren scheint. Zu komplex erweisen sich die Zusammenhänge, in denen wir unsere Lebensnetzte spannen - zu essentiell, um sich allein mit wissenschaftlich psychologischen Erklärungen zufrieden geben zu können.

 

 

Welchen Stellenwert haben Sinnfragen?

 

Für die menschliche Entwicklung spielen positive Gefühle und Sinnhaftigkeit eine enorm große Rolle. Lebenszufriedenheit geht mit Glück, mangelndes Sinnerleben dagegen mit Depression und Rückzug einher, (Studien von Reker & Wong belegen das seit 1988). Sinn finden wir Menschen durch Leistung und Arbeit, für die wir uns einsetzen und Herausforderung erleben können. Beziehungen und Nähe bedeuten Sinnhaftigkeit, denn zutiefst basal sind unsere sozialen Bedürfnisse. Sinn wird aber auch in Religion und Spiritualität gefunden, also in einer lebendigen Beziehung zu Gott oder etwas Höherem; in Selbsttranszendenz und Generativität, d.h. über die eigenen Interessen hinaus handeln wollen, einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten und vielleicht auch ein Vermächtnis hinterlassen können, (was Wong, Ryan & Deci 2001 und 2012 wissenschaftlich ausgearbeitet haben). Nach Victor Frankl, dem Gründer der Logotherapie, Holocaustüberlebender und Existenzanalytiker, gibt es keinen absoluten, allgemeingültigen Sinn im Leben. Sinn erschließt sich erst durch das persönliche und wertbezogene Handeln, meint er. Wenn Menschen ihre Werte nicht leben und verwirklichen können, geht Sinn verloren. Lebensziele sind am häufigsten mit Beziehung, Arbeit, Leistung, Wissen und Spiritualität verbunden, (was 2003 von Emmons gründlich erforscht worden ist). Sinnerleben und Kohärenzgefühl sind gesichert, solange der Mensch die Welt bedeutungsvoll erleben kann und das Selbstbild in der Interaktion mit anderen dahin passt. Massive Erschütterungen dessen sind nicht nur persönlich belastend, sondern können Selbst- und Weltbild auch komplett infrage stellen.

 

 

Werden Sinnfragen allein durch Erkrankung ausgelöst?

 

Die Frage nach dem Sinn darf bei vielen Lebensschicksalen nicht einfach pathologisiert (d.h. als ein Krankheitssymptom) gedeutet werden! Die streng klinische Haltung geht bei Sinnfragen davon aus, dass sie Ausdruck und Symptom einer behandlungsbedürftigen Depression darstellen. Ein einfühlsames psychotherapeutisches Vorgehen sollte jedoch die persönlichen Glaubensüberzeugungen, die weltanschaulichen Prägungen sowie die religiös/ spirituellen Bedürfnisse der Patienten als wichtigen biographischen Kontext mit einschließen! Es gilt spirituelle Krisen als solche zu erkennen. Auch die Dimension eines spirituellen Missbrauchs muss in der Psychotherapie entsprechende Relevanz haben können. Der Anspruch einer kultur- und religionssensiblen Psychotherapie sollte in einer pluralistischen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen.

 

 

Bedeutsame Sinnfragen in existenziellen Krisen

 

Nach einem Lebensereignis, welches das Selbst- und Weltbild erschüttert, möchten Menschen einen höheren Sinn erkennen können. Sie fragen sich: "Wieso geschieht das? Warum ausgerechnet ich? Weshalb gerade jetzt?" Wer nach einschneidenden Lebensereignissen Sinn erfassen kann, wird sich sehr viel schneller an neue Lebensumstände anpassen können. Prof. Dr. Giovanni Maio (Medizinethik der Uni Freiburg) sagte 2015 auf einem Dialogforum: "Die transzendenten Sinnfragen können dem Menschen helfen, dieses Krankgewordensein als etwas anzusehen, das dem Menschen einen Auftrag erteilt, damit er sich nicht einfach der Krankheit ausgeliefert fühlt, sondern auch im Kranksein seine Ressourcen erkennt, das Nichtgewünschte auf seine Weise zu überwinden. Und diese Weise kann eben nur eine innere Weise sein, eine geistige Weise, ja oft eine spirituelle Weise. Eine spirituelle Weise, die eben nicht dem Zweckmäßigkeitsdenken folgt, sondern Zweckrationale übersteigt." (Pluralismus in der Medizin, S. 89). Damit stellt Maio die Kraft der emotional mentalen Transformation heraus, zu der Sinnfragen bei der Bearbeitung existentieller Krisen beitragen können.

 

 

Als Ressource in den Mittelpunkt gestellt

 

"Sie [die Forscher] sind zu der Auffassung gelangt, dass die Einbeziehung einer spirituellen Dimension in die Therapie für die Heilung wesentlich wird." (M. Utsch, Psychotherapie und Spiritualität, mit existentiellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen, S. 20). Menschen mit stabilen Glaubensüberzeugungen können schwere Krisen, Erkrankungen oder Verlusterfahrungen viel besser bewältigen. Kenneth Parament konnte dies 1997 in 150 empirischen Studien nachweisen, um nur einen Wissenschaftler auf diesem Forschungsgebiet zu nennen. Die Fähigkeit zur Sinngebung stellt eine große persönliche Ressource dar, die individuell unterschiedlich ausgeprägt ist. Sie wirkt ungemein regulierend und kann in der Psychotherapie hervorragend genutzt werden. Und wenn eine solche Ressource völlig fehlt, ist die Psychotherapie gefragt, sie unbedingt anzuregen.

 

 

Die konventionelle Psychotherapie marginalisiert transzendente Themen

 

Als wissenschaftliche Disziplin delegiert die konventionelle Psychotherapie (d.h. die drei von den Krankenkassen zugelassenen Richtlinienverfahren) metaphysische Fragestellungen an die Seelsorge und Philosophie. Damit vertieft sie weiter die Spaltung in unserer wissenschaftlich westlichen Medizin und Psychologie. Bestenfalls wird das alte mechanistische Paradigma der Humanwissenschaften durch ein sogenanntes biopsychosoziales Menschen- und Weltbild ersetzt. Darin wird der Patient nun in einem biologischen (seinen eigenen Körper betreffenden), einem psychischen (seine Psyche betreffenden) und einem sozialen (sein soziales Umfeld betreffenden) Kontext gesehen. Die Humanwissenschaften deklarieren ihr biopsychosoziales Paradigma gerne als ganzheitlich; zwar konnten der Körperbezug sowie der des sozialen Umfeldes als bedeutende Einflussgrößen integriert werden - ein spiritueller Bezug wird jedoch weiterhin kategorisch ausgeschlossen. Erst der Positiven Psychologie ist es seit einigen Jahren gelungen, auch Sinnfragen und Spiritualität in die wissenschaftlich psychologische Forschung hinein zu holen. Das darf als eine Weiterentwicklung in Richtung Ganzheitlichkeit gewertet werden, nachdem nämlich die frühe Psychologie extrem religionskritisch war, und v.a. die Psychoanalyse lange Zeit religiöse Gläubigkeit als "infantile Zwangseurose" abgetan hat ( Freud 1974, erstmals 1927). "Das enorme Interesse an Spiritualität verdankt sich zum einen Vorläufern, speziell der Humanistischen und Transpersonalen Psychologie, die die religionskritische Attitüde von Psychoanalyse und Behaviorismus nicht mittrugen, sondern im Menschen ein >animal spiritualis< sahen." (A. Bucher, Psychologie der Spiritualität, S.13)

 

 

Die ganzheitliche Psychotherapie ist offen für Sinnfragen

 

... so auch in meiner Praxis. Und Prof. Dr. Giovanni Maio - ich möchte ihn an dieser Stelle noch einmal zitieren - fand im Dialogforum sehr passende Worte dafür: "Daher ist die Sinnsuche oft mit der Sehnsucht nach Einheit verbunden. [...] Der Sehnsucht nach Überwindung verschiedener Formen des Dualismus, der Trennung von Geist und Materie, von Leib und Seele, von Diesseits und Jenseits, von Glaube und Wissen. [...] Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass Sinn weniger mit Objektivierbarkeit als vielmehr zu tun hat mit [...] einer Befindlichkeit, in der das Bewusstsein fruchtbar wird, ein Gewahrwerden der großen Zusammenhänge, die zwar nicht quantifizierbar und definierbar sind, die aber als solche empfunden werden können und dadurch zu etwas Tragendem werden. [...]

 

Dieses Gefühl des Sich-Getragen-Wissens lässt sich aber nicht einfach herstellen und als Zweck definieren, sondern das ist ein Gefühl, das sich einfach breit macht, wenn eine bestimmte Atmosphäre und eine innere Disposition Raum dafür schafft. [...] Daher kann die Zukunft der Medizin nicht darin bestehen, einfach zurück zu früheren Konzepten gehen zu wollen, aber sie muss lernen, dass man dem kranken Menschen nur dann gerecht werden kann, wenn man ihn sowohl in seiner körperlichen, als auch in seiner existentiellen Krise wahrnimmt, und sich jederzeit vergegenwärtigt, dass diese [...] Sphären des Menschen keine [...] verschiedenen Welten sind, sondern unaufhebbar miteinander verknüpft bleiben." (G. Maio, "Pluralismus in der Medizin", S. 88-91)