Atypische Essstörung beim Mann

11.08.2017

 

... Thomas* ist Ende 20, und auch nach Abschluss seines Studiums weiterhin im Telefoncenter tätig. Er treibt extrem viel Sport und hat einen dem entsprechend athletischen Körperbau. Nach Feierabend ist er zwar hundemüde, doch erst wenn er sein bestimmtes Quantum Sport geleistet hat, Joggen, Radfahren, Schwimmen oder Gerätetraining, kann er zufrieden mit sich sein. Er isst große Mengen, verschlingt die Speisen und stopft sich manchmal auch so voll bis nichts mehr geht. Erst dann kann er es sich erlauben, liegen zu bleiben und nichts tun zu dürfen, schaut dann stundenlang fern. Vieles wird exzessiv betrieben, maßhalten und genießen fällt ihm schwer. Auch sexuelle Bedürfnisse sind maßlos bei ihm, die Frauen kommen und gehen, er hielt es nie lange in festen Beziehungen aus.

 

Seine Augen strahlen voller Lebendigkeit und sind doch unstillbar hungrig auf alles und nichts. Seitdem er regelmäßig zu den Gesprächen kommt, ist er ruhiger geworden. Durch Spannungsprotokolle und Achtsamkeitsübungen aus dem DBT (Dialektisch Behaviorale Therapie) hat sich seine Konzentration schon etwas gebessert, gähnt er jetzt auch im Gespräch weniger und springt nicht mehr von einem zum nächsten Thema. Er fühlt sich weniger getrieben und die Überforderung am Arbeitsplatz lässt nach. Thomas ist ehrgeizig und will seine Kompetenzen beruflich eigentlich besser unterbringen, doch viele Ängste hindern ihn. Nur beim Sport fühle er sich stark und sicher, spürt er seinen Körper und ist zufrieden mit sich. Ansonsten muss er sich permanent zusammenreißen ... oder beweisen auf der Suche nach Anerkennung von ... Selbst in unseren Sitzungen sucht er viel Zustimmung und täuscht auch manchmal Therapieerfolge vor.

 

Richtig Chillen kann er zwar noch nicht, denn in Ruhephasen kommen überwältigende Ängste über ihn. In unseren Gesprächen hat es gedauert, bis er über seine "Schwächen" offen reden konnte. Dabei hat er schon drei Jahre Psychoanalyse hinter sich. Was er schon über sich und die Ursachen seiner "Störung" weiß, können wir gut nutzen, doch was er sich wünscht ist Veränderung. Ängstlich war er schon als Kind, die Eltern waren streng und sein Studium hat er als einen einzigen Drill in Erinnerung. Er glaubt, die Anforderungen, die das Leben an ihn als erwachsenen Mann stellt, nicht erfüllen zu können. Und er spürt, dass er erste Schritte macht, nicht nur mit dem Essen, sondern auch mit Alkohol, Sex und Sport wieder maßvoller umgehen zu können.

 

Thomas stabilisiert sich schon seit Jahren über dieses suchtartige Verhalten. Ich riet ihm, sich zusätzlich eine Selbsthilfegruppe zu besuchen, und auch davon profitiert er sehr. Als atypische Essstörung würde man sein Essverhalten einordnen können. Sein hohes Spannungsniveau gleicht dem "Hyperarousel", wie es traumatisierte Menschen häufig zeigen. Und in der Tat finden sich zahlreiche traumatische Erlebnisse in seiner frühen und mittleren Kindheit. Trotz gründlicher Aufarbeitung seiner Geschichte in vorheriger Therapie ist ihm die innere Unruhe und das hohe Spannungsniveau erhalten geblieben. Viele seiner Symptome sprechen für eine Entwicklungsstörung im Persönlichkeitsbereich, ... und dennoch ist bei Thomas vieles "atypisch".

 

Letztendlich ist für seine Therapie v.a. wichtig: Motivation zur Veränderung, eine Krankheitseinsicht und die Eigeninitiative. DBT-Übungen machen ihm mittlerweile richtig Spaß, der regelmäßige Einsatz von Hypnose und Achtsamkeit-Techniken fördern eine deutliche Verbesserung im Bezug zur Körperwahrnehmung und den Bedürfnissen. Selbstfürsorge fällt ihm schwer, daher ist die therapeutische Unterstützung dringend angesagt in diesem komplexen Umlernprozess. So bemerkenswert jeder einzelne Fall von gestörtem Essverhalten auch sein mag: Mit Psychotherapie kann es bei Ess- und anderen Regulationsstörungen gelingen, die zahlreichen Ängste abzubauen und das Selbstvertrauen wieder herzustellen. Nach und nach erarbeitet sich der Mann seine ganz persönlichen Regulative, mit denen das emotionale und gedankliche Leben wieder steuerbar wird!

 

(*Thomas in diesem Text ist nicht identisch mit einer realen Person; personenbezogene Angaben sind hier frei gewählt und geben keine Rückschlüsse auf Klienten von mir oder reale Personen; insofern handelt es sich bei Thomas um eine fiktive Person zur simplen Falldarstellung.)