Ist Adipositas eine Essstörung?

24.04.2017

 

Ich bin immer wieder verblüfft, wie viel Leute fest davon ausgehen, Adipositas sei immer eine Essstörung. Zwei Kolleginnen der Psychosomatik besuchten letztes Jahr eine Adipositas Fachfortbildung. Danach berichtete eine dieser Kolleginnen in unserer Besprechung, wie erstaunt sie gewesen sei, erstmalig erfahren zu haben, dass Adipositas keine Essstörung ist. Sogar in psychosomatischen Kliniken ist dieses Wissen nicht immer selbstverständlich!

 

Definition:

Adipositas heißt übersetzt „Fettsucht“ und bezeichnet einen Körperzustand von einem Übergewicht, das einen Body Maß Index von 30 überschreitet. Über die Ursachen, die dazu führen, sagt der Begriff „Adipositas“ nichts aus. Erst neulich habe ich in der Psychosomatischen Klinik (Hospital zum heiligen Geist in Frankfurt am Main) eine kleine Fortbildung zum Thema „Adipositas“ halten dürfen, und meine Zuhörerinnen und Zuhörer (die meisten aus der Berufsgruppe der Pflege, aber auch ein hospitierender Psychiater aus China war dabei) mit der Vielfalt an Ursachen überrascht, die einen Menschen adipös werden lassen.

 

Mögliche Ursachen:

In erster Linie sei hier die hohe genetische Disposition (bis zu 70%) genannt. Sie legt bei manchen Menschen über die Gene fest, dass mehr Fett im Körper eingelagert wird, und solche Betroffene können schwerer abnehmen. Möglicherweise ist der natürliche Set-Point eines solchen Menschen bereits höher als bei anderen, was bedeuten würde, dass dick nicht immer krank sein muss. Eine therapeutische Anamnese (d.h. Informationssammlung vor Beginn einer Therapie) sollte daher genauer nachfragen. Wie war es denn in der Kindheit? Sind Angehörige auch adipös? Gab es große Gewichtsschwankungen oder eher eine kontinuierliche Gewichtszunahme? Spielen in der Gewichtsbiographie Zeiträume wie die Pubertät, Schwangerschaft oder das Klimakterium eine signifikante Rolle? Wie ging es nach den Diäten weiter? Könnte auch ein Lipödem vorliegen?

 

Bevor das Essverhalten hinterfragt wird, ist doch auch von Belang, ob andere Erkrankungen vorlagen oder noch immer vorliegen? Werden Medikamente eingenommen? Wer denkt daran, dass viele allopathische Medikamente eine Gewichtszunahme begünstigen! Eine gute Beratung sollte dies zu berücksichtigen wissen, was nicht heißt, dass die Beratung die ärztliche Verordnung in Frage stellt. Es geht darum, Ursachen einer kontinuierlichen Gewichtszunahme und Chancen auf eine Korrektur realistisch und umfassend beurteilen zu können, ganzheitlich und professionell zu beraten.

 

Unter den Hormonstörungen, die Adipositas u.a. hervorrufen können, steht die Schilddrüsenunterfunktion an erster Stelle. Wer darunter leidet, muss das fehlende Hormon als Medikament einnehmen. Doch leider schreitet die Gewichtzunahme auch bei korrekter Medikamenten-Einnahme weiter voran, Diäten und Nahrungskarenz können daran meist kaum etwas ändern.

 

Die Mikrobiom-Forschung hat uns gezeigt, dass adipöse Menschen andere Bakterien im Darm haben im Vergleich zu schlanke Menschen. Das wirft viele Fragen auf. Zusammenhänge mit dem Ernährungsstil, aber auch mit Folgen von Antibiotika-Therapien lassen interessante Rückschlüsse zu über die zunehmende Adipositas-Prävalenz. Dies im Zusammenspiel mit Bewegungsarmut und Dauerstress, der bekanntlich mit ständig erhöhten Adrenalin- und Kortisol-Pegeln (Stresshormone) einhergeht, könnte auch ohne offensichtliche Ernährungsfehler zu einer kontinuierlichen Fetteinlagerung im Körper führen.

 

Fehlernährung ist heute sicherlich nicht auf adipöse Menschen beschränkt. Überraschend aber ist dann, dass sich bei vielen adipösen Menschen trotz ihres großen Körperfettanteils oftmals sogar eine Mangelernährung findet. In den meisten Fällen dürfte sich das durch Nahrungsverzicht und Diätverhalten erklären lassen. Diäten führen häufig in eine paradoxe Gewichtsentwicklung, eine oft ignorierte Tatsache, die aber von wissenschaftlichen Studien belegt ist. Heißhungeranfälle, unstrukturiertes Daueressen, nächtliches Essen in tranceartigem Zustand oder ständiges Überessen bei den Mahlzeiten deuten schließlich auf eine Essstörung als Ursache hin.

 

Außerdem:

Last but not least können auch psychische und soziokulturelle Aspekte eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von chronischem Übergewicht spielen. Ist die Psyche dieser Betroffenen für ein Leben mit einem schlanken Körper nicht oder noch nicht gewappnet und wodurch, könnte man fragen? Zahlreiche dem Tagesbewusstsein unzugängliche Ursachen können in einer Psychotherapie oder in einer Selbsthilfegruppe bewusst gemacht und bearbeitet werden.

 

Wo lässt sich Einfluss nehmen? Bei der Ernährung, der Freude an mehr Bewegung, der Motivation zur Veränderung des eigenen Lebensstils? An der Einstellung zur eigenen Person, dem Aufbau von mehr Selbstsicherheit trotz Übergewicht? Und wie kann ich Sie dabei unterstützen? Am Aufbau neuer Fähigkeiten, besser "Nein" sagen können z.B., mehr Durchsetzungsvermögen und Selbstvertrauen?

 

Mir ist es immer wieder eine große Freude, den ganz individuellen Weg mit den Betroffenen erarbeiten zu können. Denn jede Biographie von Übergewicht oder Adipositas ist die eines ganz individuellen Menschen, der vielleicht eine Essstörung hat - sicher ist das nicht!